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Geht's noch billiger?

Geht's noch billiger?

Unter der Scannerkasse eines Supermarkts in Wien-Erdberg in der Nähe des Fiakerplatzes liegen seit vielen Monaten zwei einsame Münzen: eine kleine Zwanzig-Cent Münze und ein winziges Ein-Cent-Stück.

Eine Publizistikstudentin im Gothic-Outfit, die an massivem Liebeskummer litt, hatte in der Diskontfiliale eine Flasche Obstschnaps gekauft, mit einem Zehn-Euro-Schein bezahlt und als Wechselgeld an der Kassa zwei Münzen bekommen: ein Zwanzigcentstück und ein kleines Eincentstück. In ihrem hektischen Bemühen, die Spirituose möglichst rasch in ihrem Backpack verschwinden zu lassen, verschusselte sie die beiden Münzen.

Die Wechselgeldmünzen rutschten ihr nach dem Frustkauf aus den braungekifften Fingern, fielen auf den Boden, kullerten unter die Scannerkasse und blieben dort unten an einer Stelle liegen, wo sie weder von den Kunden noch von den Mitarbeiterinnen der Filiale gesehen und entdeckt werden konnten. Die Lage der verlorenen Münzen verschlechterte sich noch, als sie von einer Mitarbeiterin der Filiale beim Aufwischen des Bodens unabsichtlich unter die Bodenritze einer Sockelleiste geschoben wurden, wo die beiden Zerquetschten seither unverrückbar festsaßen.

Obwohl der Boden der Filiale mit schöner Regelmäßigkeit am Ende jedes Arbeitstages sauber aufgewischt wurde und sich die Wischmobs der Filialmitarbeiterinnen dabei den Münzen oft bis auf wenige Millimeter genähert hatten, schrumpften die Chancen für eine Bergung der Verschollenen von Tag zu Tag.

Im Laufe der Tage, Wochen und Monate war es den Elektronen der aus den Metallen Kupfer, Aluminium, Zink und Zinn bestehenden Legierung, aus der die kleinen Münzen bestanden, zur Gewissheit geworden, dass sie keine Chance hatten, in absehbarer Zeit aus ihrer Fixierung befreit zu werden. Die beiden Zwutschgerln würden nie mehr ihren geliebten Beruf als Wechselgeldbegleiter der Menschen ausüben können und der ersehnte Wiedereintritt in den aufregenden und abwechslungsreichen Geldkreislauf würde ihnen verwehrt bleiben. Denn der ehestmögliche Entdeckungszeitpunkt für die Beiden könnte die Installation einer neuen Scannerkasse sein. Leider war die Filiale in Wien-Erdberg noch ganz neu. Erst ein paar Tage vor der Münztragödie war sie feierlich unter Anwesenheit des Vorstandsvorsitzenden der Diskontkette eröffnet worden. Im schlimmsten Fall würde es bis zum Abriss der ganzen Filiale dauern, bis man die unbedeutenden Scheidemünzen entdecken und befreien würde. Aber dann war es zu spät, denn in zehn oder fünfzehn Jahren würden die Centmünzen, die schon zum jetzigen Zeitpunkt nicht mehr viel Wert waren, als Zahlungsmittel überhaupt nicht mehr zu gebrauchen sein. Dann würden sie ihre Entdecker in den Müll werfen oder sie würden in einem Gurkenglas einer Filialangestellten vergammeln, was auf einen Wechsel des Gefängnisses hinausliefe, auf nichts weiter. Verzweiflung und Depression waren die Konsequenz für die beiden Loser

Nach und nach – über Wochen und Monate hindurch - bildete sich zwischen den beiden Münzen – durch den Mangel an Zukunftsperspektiven in Kombination mit bedrückender Langeweile - ein Phänomen, für das weder das Heisenberg-Modell lokalisierter magnetischer Momente noch die Stoner-Theorie des Bandelektronen-Magnetismus eine wissenschaftlich fundierte Erklärung liefern konnten: Die beiden Metalle begannen, miteinander zu kommunizieren, indem sie ihre Erlebnisse aus der Vergangenheit austauschten.

Und so begann unsere Geschichte, die der Seniormünz, wie die Zwanzig-Centmünze sich nannte, dem kleinen Juniormünz an den langen Tagen und Nächten in der Gefangenschaft des Diskontmarkts des EGT-Konzerns unter der Scannerkasse erzählte … (160 Seiten, broschiert, EUR 8,50 - erhältlich im Buchhandel)

Gehts noch billiger?